What we have in common - Wem gehört eigentlich Kafka?

Schülerinnen und Schüler aus Michelbach und dem tschechischen Frydlandt diskutieren über kulturelle Gemeinsamtkeiten im Radio StHörfunk

"Glaubst du, dass Kafka ein tschechischer oder ein deutscher Autor ist?" "A Czech one, ein tschechischer", antwortet Madja aus dem böhmischen Frydlandt in der tschechischen Republik, wie aus der Pistole geschossen und führt aus, schließlich sei er im Prag der Jahrhundertwende geboren worden. Kafka ist für sie ein tschechischer Autor mit jüdischen Wurzeln, der eben im multikulutrellen Böhmen der damaligen Zeit in seiner Muttersprache Deutsch publizierte und daher beim deutschen Verlag Suhrkamp in Berlin verlegt wurde.

Yichuan, chinesische Schülerin vom ESZM in Michelbach, hat ihre Liebe zu Kafka schon länger entdeckt: "As Gregor Sams awoke one morning ... Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." Die Literatur begeisterte Internatsschülerin liest den berühmten ersten Satz aus Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" bewusst auf Englisch, denn die Zuhörerschaft in Frydlandt soll sie mindestens genauso gut verstehen, wie das Haller Radiopublikum des freien Senders Radio StHörfunk.

Von Montag bis Donnerstag erarbeiteten vom 23. bis 26. September unter dem Motto "What we have in common" zwanzig tschechische Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren achtzehn deutschen Austauschpartnern, was das tschechische Böhmen mit dem deutschen Hohenlohe verbindet. Eine ganze Woche lang konnten sich die Haller Anfang Oktober dann im Rahmen der Sendung StHörfleck über den gemeinsamen mitteleuropäischen Kulturraum der beiden Länder informieren. Die Moderatorinnen Tereza, Ena und Samina führten charmant und professionell durch die einstündige Sendung.

In sechs Gruppen widmeten sich die Schülerinnen und Schüler berühmten gemeinsamen Autoren wie Kafka und Preußler und warfen einen Blick auf die wechselhafte europäische Geschichte, die das einstige Königreich Böhmen, fester Bestand des heiligen römischen Reiches, zu einem Teil der kommunistischen Tschechoslowakei machten. Um die gemeinsame Geschichte vor Ort zu erleben, recherchierten die Jugendlichen auf ihrem field trip nach Nürnberg in der Kaiserburg die mittelalterlichen Wurzeln des gemeinsamen Kulturraums, der sein jähes Ende mit der Niederlage der Deutschen im Zweiten Weltkrieg fand. Die Führung über das Reichtsparteitagsgelände führt den Jugendlichen diesen Schnitt in der Geschichte Mitteleuropas und seine Ursachen noch einmal vor Augen.

Pragmatisch reagiert die Gruppe auf die Diskussion um Kinderbuchautor Otfried Preußler und dessen Vergangenheit in der Hitlerjugend. Mit dem Nachnamen Syrowatka wird der Autor 1923 im tschechischen Liberec geboren. Tscheche oder Deutscher? Die tschechischen Schülerinnen und Schüler sind sich sicher: Mit diesem Nachnamen - Tscheche natürlich. Schließlich bedient Preußler berühmtester Jugendroman "Krabat" sich auch einer sorbischen, und damit slawischen Sage. Was in Bayern zu hitzigen Diskussionen führte, ist in Michelbach schnell erledigt: Kann man ein Gymnasium noch nach einem ehemaligen Nazi benennen, egal wie gut er geschrieben hat und wie alt er damals war? Eigentlich nicht, befindet die Gruppe, aber seine Bücher sind unsterblich, das glauben Tschechen wie Deutsche. Daher hätten sie gegen ein "Krabat- Gymnasium" nichts einzuwenden.

Neben Literatur und Kultur stoßen die Schülerinnen und Schüler beim traditionellen Essen auf viele Gemeinsamkeiten: Schweinefleisch gehört in beiden Ländern, sei es in Form von Schnitzel oder Braten, auf den Teller. Schwäbische Spätzle gibt es in Frydlandt natürlich nicht, dafür aber Knödel. Das Schulsystem in beiden Ländern mit seinen Gymnasien und breiter Allgemeinbildung gleicht einander verblüffend. Außerdem sind die Jugendlichen inzwischen durch ganz andere Kulturgüter eng miteinander verbunden. Beim jugendlichen Musikgeschmack haben dank Social Media sehr ähnliche englischsprachige Bands die Nase vorn. Auch Trends wie weiße Socken in Badelatschen zu tragen, werden unter jungen Leuten in beiden Ländern gepflegt. - Und wer isst eigentlich noch Schweinefleisch? Sie finde das Ganze ziemlich ekelhaft, befindet eine tschechische Schülerin beim Ausflug in den alten Stuttgarter Schlachthof im dortigen Schweinemuseum. Sie esse längst kein Schwein mehr, sondern überwiegend maixmal chicken, Hünchen also und am besten nur vegaterisch.

Für die meisten der 38 Jugendlichen war bei aller harter Arbeit, die sie in die Produktion der Radiosendung stecken, das Programm nur ein Nebenschauplatz des Austausches. Helene Preuß, Redakteurin des ESZMedia-Teams, erhält bei ihren Interviews mit einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern häufig die gleiche Auskunft: Was hat euch besonders am Austausch gefallen? Das abendliche Miteinander. Freizeitaktivitäten wie Minigolf und Billiard spielen, gemeinsam ausgehen, quatschen,... Ihre Familien mochten die meisten wirklich gerne. Wenig Konflikte habe es innerhalb der Gruppe gegeben, umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass alle sich in dieser Woche zum ersten Mal getroffen haben. Als der Bus am Freitag punkt Mitternacht wieder aus der Schlossausfahrt rollt, rollen auch die ersten Tränen. Gut, dass sich alle im April beim Gegenbesuch wiedersehen werden!

Und Kafka? Die Schülerinnen und Schüler haben sich die Sätze für ihre Aufnahme im Studio am Freitagmorgen vorformuliert: "Kafka war ein detuscher und ein tschechicher Schriftsteller. Seine Darstellung menschlicher Ängste berühren jedoch Menschen in allen Ländern. - He belongs to the whole world."

Helene Preuß (10A), ESZMedia, Elisabeth Matthes

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